Susanne Firgau

Susanne Firgau lebte 1919 - 2007, Studium an der Kunstakademie Düsseldorf, Schülerin von Max Ackermann, Freundschaft zur Familie Oskar Schlemmer, Autorin des Bestsellers: "Benjamins Bilderbuch" (Herder Verlag), Mitglied im Künstlerbund Stuttgart und im Bund Bildender Künstler.

Programmatische Rede von Susanne Firgau:

- Verborgenes sichtbar machen -

Der Künstler ist kein Philosoph und kein Wissenschaftler, also auch kein Theoretiker. Er ist einer, der etwas macht. Die Worte darüber machen im allgemeinen die anderen. Nachdem nun Kunst wie vieles andere in Frage gestellt wird, muß auch der Künstler sich Gedanken machen, oh dieser Beruf noch eine Berechtigung hat.

Kunst ist ebenso wie Wissenschaft ein vom Menschen Hervorgebrachtes, eine Äußerung des Menschen. Die Absicht, über Erfahrungen zu einem Übergeordneten zu gelangen, liegt beiden Tätigkeiten zu Grunde. Aber es besteht ein entscheidender Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Kunst. Gegenstand oder Inhalt der Naturwissenschaft liegt außerhalb des Menschen. Indem diese Inhalte außerhalb liegen, lassen sich Erkenntnisse und Arbeitshypothesen an Erfahrungen überprüfen, die unverfälscht vom Subjektiven sich darbieten. Anders ist es bei der Kunst. Die Inhalte liegen im Verborgenen des Menschen selbst. Es ist das Unbekannte, das Unaussprechliche im Menschen, das sichtbar gemacht wird. Während des schöpferischen Prozesses ist er Subjekt und Objekt in einer Person. Erst wenn das Kunstwerk fertig ist, kann es Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen sein. Eine zweite Schöpfung, nämlich die des Menschen, steht dann als Objekt zur Verfügung. Die Beurteilung dieses Objektes ist darum so schwierig, weil sie ganz wesentlich von der Kenntnis seiner Entstehung abhängt. Diese läßt sich aber nicht wie Naturgesetze vom Vorhandenen ableiten. Es ist das Unbekannte im Menschen, das die Sache hervorbringt, und wenn der Beschauer darauf reagiert, und das sollte ein Maßstab für Kunst sein, so ist es dasselbe Unbekannte in diesem, das da reagiert. Es werden Vorstellungen und Erlebnisse direkt vermittelt, aber wie das vor sich geht, entzieht sich unserer Kontrolle. Wenn wir wüßten, was Kunst ist, wüßten wir sicher mehr vom Menschen selbst.

Außerdem ist da noch eine andere, sehr merkwürdige Sache. Indem sich der Künstler in seiner eigenen Schöpfung des in der Natur Vorhandenen bedienen muß, werden Eigenschaften der sogenannten Materie sichtbar, die außerhalb des Forschungsbereichs der Naturwissenschaft liegen. Farbe, Form, Ton und Klang, Licht und Dunkelheit als physikalische Phänomene offenbaren in der Gestaltung durch den Künstler Qualitäten, die, so scheint es, nichts mit ihrer physikalischen Beschaffenheit zu tun haben, Diese Eigenschaften macht sich der Künstler zunutze, indem er sie als Katalysator für seine Inhalte gebraucht. Es war die Entdeckung der abstrakten, oder besser gesagt, der absoluten Malerei, Form, Farbe, Linie, Hell, Dunkel und Raum um ihrer selbst willen zu erforschen, sie von ihrer reproduktiven Aufgabe erst einmal ganz zu befreien und dabei festzustellen, daß diese bildnerischen Mittel mit den ihnen innewohnenden Eigenschaften durchaus eine eigene, darstellerische Selbständigkeit entwickeln.

Im schöpferischen Prozeß offenbaren sich unbekannte Inhalte mit Hilfe von Qualitäten der Medien, die ebenfalls unbekannt sind. Möglich, daß ein direkter Zusammenhang besteht, ein Gleichklang des Gesetzlichen zwischen dem, was außerhalb des Menschen sich befindet in Form von Materie, Material, und dem Wesenskern des Menschen. Im Kunstwerk vereinen sich diese beiden Unbekannten zu einem sichtbaren Ganzen.

Schon in der früheren Kunst wurden nicht nur sichtbare Ereignisse dargestellt, sondern auch dahinterstehende Kräfte, die geschaut, erahnt oder erdichtet wurden: Dämonen, Götter, Unsichtbares. Die Darstellung beginnt über ihren ursprünglichen Zweck hinaus ein Eigenleben zu führen, das übermächtig wird und zur Verehrung bis zur Anbetung dessen führt, was eigentlich ganz einfach nur durch Menschenhand entstand: Das Bild selbst wurde nun für das Unsichtbare genommen. An dieser Fähigkeit des Menschen, einen seelisch-geistigen Inhalt auf ein Bildhaftes zu fixieren --- einschließlich der Unfähigkeit, Inhalte, die einmal mit Vorstellungen verknüpft wurden, wieder davon abzulösen - , hat sich bis heute nichts geändert. Wir beten keine sichtbaren Bildnisse mehr an, aber bis tief hinein ins Unbewußte sind wir angefüllt mit Bildern, festen Vorstellungen, von denen wir uns nicht mehr lösen können. Das menschliche Unbewußte ist eine riesenhafte Bildersammlung, die scheinbar in einem Dornröschenschlaf liegt und die doch, meist ganz unkontrolliert, ins Gegenwartsgeschehen und in die Handlungen des Menschen direkt eingreift. Wir unterliegen einer Diktatur in unserem Innern. Die Summe der verdrängten Bilder macht den größten Teil unserer Persönlichkeit aus. Und es tritt immer mehr die Frage hervor: Bin ich überhaupt das, was ich bin?

Wenn solche Zusammenhänge erkannt werden, ist es einleuchtend, daß eine allmähliche Befreiung in Form eines Bewußtwerdungsvorganges einsetzen muß. Und hier beginnen die Aufgaben der modernen Kunst. Die Tiefenpsychologie versucht heraufdämmernde Traumbilder festzuhalten, in der Analyse das Bild zu entschleiern und den Inhalt, der sich hinter dieser Maske verborgen hält, zum Vorschein zu bringen. Der lange Prozeß der Formwerdnug unter Vergessen der Inhalte, die zu diesen Bildern, diesen Vorstellungen oder Vorurteilen geführt hatte, wird nun rückwärts wieder aufgerollt.

Dem Künstler ist dieser Vorgang schon längst bekannt. Er ist ein Mensch wie jeder andere, mit dem einen Unterschied: Er ist auf den Trick gekommen, sich zu befreien, indem er Unbewußtes aus sich heraus setzt und es auf diese Weise zur Anschauung bringt. Er ist sozusagen ein Tagträumer. Er macht die Form, hinter der sich der Inhalt verborgen hat, im kreativen Prozeß sichtbar und zwingt den Inhalt, hervorzutreten. Er ist ein Kind seiner Zeit, genau so belastet und mit den gleichen Problemen beschäftigt, wie alle anderen auch. Aber er ist hochsensibel und hat es gelernt, sich vom Ertragen-Müssen unhaltbarer Zustände auf seine Weise zu befreien. In dem, was er aus sich heraussetzt, gibt er ein Zeichen für seine Zeitgenossen. Der Künstler ist Teil der Gesellschaft, aber ein äußerst sensibles Teil, das die Aufgabe hat, das Befinden des Ganzen anzuzeigen. Man kann über Gegenwartskunst denken, was man will, aber so gesehen hat sie ganz bestimmt nicht die Aufgabe, als schöner Schein zu übertünchen, was durchaus nicht in Ordnung ist. Sie kann auch schockieren, da das Hervortreten von Wahrheiten nicht immer angenehm sein muß. Es muß daher heißen: ,,Gesellschaft, schau auf Deine Künstler, und Du siehst, wie es um Dich steht Denn dieses Teil des Ganzen reagiert und macht das Verborgene sichtbar." Kunst hat also keine Aufgabe, sie ist zweckfrei. Aber sie hat eine Funktion.

Nun ist aber jemand, der sich zu befreien sucht, indem er etwas macht, noch kein Künstler, sondern einer, der sich schöpferisch betätigt. Dem Künstler, indem er über das angelernte, handwerkliche Können verfügt, gelingt darüber hinaus noch ein weiteres. Es gibt Kunst, die an der Spitze handwerklicher Perfektion entsteht. Man sagt ja auch, Kunst kommt von Können. Aber Kunst ist nicht gleich Können. Wenn Material soweit gestaltet wird, daß Materie an die Grenze zu einer geistigen Aussage angehoben wird, dann erst wird aus Können Kunst. Es scheint dies wie eine Art Überwindung der Schwerkraft, man spricht dann auch von ,,unsterblicher Kunst", obwohl das Ding nach wie vor als Ding zerstörbar ist. Jedoch ist es Dokument eines Prozesses, der auf Unzerstörbares hinweist.

Mir scheint es ganz wesentlich, daß dieser Prozeß stattfindet über die Auseinandersetzung mit dem Material. Der Vorgang der Bildwerdung ist ein evokativer Prozeß, an dessen Ende erst das Bild gefunden wird. Demnach ist das Motivische nicht Ausgangspunkt der Tätigkeit, sondern ihr Ergebnis. Ich habe auf die verborgenen Fähigkeiten der Bildmittel hingewiesen, die zu Tage treten, wenn sie gestaltend eingesetzt werden. Direkt durch die sinnliche Wahrnehmung wird Unbewußtes bereits angesprochen, bevor Bewußtsein Begriffe dazu hervorbringt, wenn bestimmte Gesetze der Medien erfüllt werden. Vorzeitige Darstellungsabsichten würden die Mittel ihrer Aussagekraft berauben und sie unfähig machen, Erlebnisse hervorzurufen. Es wäre der Versuch einer Darstellung, kein Kunstwerk. Die Inhalte sind da, bewußt oder unbewußt, aber im Gegensatz zur Naturwissenschaft müssen sie vergessen werden. Es ist wichtig, jede gegenständliche Vorstellung oder auf Inhaltliches gerichtete Absicht zu unterdrücken, bis am Ende der mit Form und Farbe umgehenden Tätigkeit das auftaucht, was in einem selbst ist und doch mehr ist, als man wußte.

Nun geschieht es aber, daß Gegenwartskunst, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Bewußtseinsänderung zu bewirken, oft nur verstanden werden kann, wenn lange, intellektuelle Erklärungen mitgeliefert werden. Ich glaube, das liegt daran, daß der beabsichtigte Inhalt nicht aus dem Unbewußten im Arbeitsprozeß aufgestiegen ist. Somit fehlt der Darstellung die Qualität des realen Erlebnisses, und das Werk ist eine illustrierte Formel. Dann kann man meiner Ansicht nach genau so gut einen Artikel schreiben. Zeitprobleme, so dargestellt, erübrigen sich, denn der aufmerksame Bürger kann seine Erschütterungen, auf die es ja ankommt, aus der Zeitung beziehen. Die Funktion der Kunst aber ist, daß sie Inhalte zum unmittelbaren Erlebnis werden läßt, und das ist nur möglich, wenn diese Inhalte nicht aus dem Intellekt, sondern aus der Erlebnissphäre aufgetaucht sind. Das macht Kunst heute so außerordentlich schwierig, weil Intellekt immer schwerer auszuschalten ist und außerdem die evokativen Qualitäten der bildnerischen Mittel und auch des Ästhetischen abgewertet wurden.

- Susanne Firgau -
verfasst vermutlich in den 70er Jahren